Ihr kennt ihn alle, habt ihn schon 100.000 Mal auf Blogs und Youtube oder in der Stadt gesehen und wahrscheinlich besitzt ihr ihn selbst oder hättet ihn zumindest gerne. Die Rede ist von DEM Accessoire der Saison, dem roten, dem zweiseitigen, karierten Zara-Schal. Mittlerweile hat er sogar ein kleines Brüderchen bekommen, der zwar ähnlich, aber doch ein bisschen anders ist. Genau diesen habe ich mir vor längerer Zeit gekauft. Weil er riesig ist, sodass man sich unter ihm stets verstecken kann, weshalb ich ihn auch liebevoll Decke-to-Go nenne. Weil er unfassbar weich ist und mich selbst bei eisigem Wind warm hält. Weil er weiß und schwarz auf der einen und bordeaux, grün, gelb, schwarz und weiß auf der anderen Seite ist und sich nahe zu jeder Winterklamotte super kombinieren lässt. Weil ich ihn mag, obwohl er von ZARA ist. Ein Laden der billige Qualität zu horrenden Preisen verkauft und sie noch unter miesesten Bedingungen produzieren lässt, aber immer stylishe Klamotten bietet.
Eigentlich führen wir beiden eine sehr innige Beziehung, er begleitete mich beinahe täglich den ganzen Herbst hindurch überall hin. Er war immer an meiner Seite als ich ihn brauchte, er hat mich nie im Stich gelassen. Wunderschöne Momente haben wir gemeinsam erlebt. Wir haben zusammen gelacht und zusammen geweint, als uns danach war. Wir waren füreinander da. Und jeder konnte es sehen, weil wir unzertrennlich waren. Doch jetzt ist alles anders. Die öffentlich zur Schau getragenen Verliebtheit ist zu einer stillen, intimen, heimlichen Zweisamkeit geworden. Nur wenn wir allein sind, geben wir uns einander Bedenken los hin. Stundenlang liegen wir uns in den Armen und freuen uns, dass wir einander wiederhaben. Und schuld daran sind natürlich wie immer „die anderen“.
Die anderen, die ein solches Prachtexemplar nur deshalb gekauft haben, weil ihn alle besitzen (wollen). Die anderen, die einem Trend hinterher jagen, nur weil er Trend ist. Die anderen, die ihren Begleiter überhaupt nicht zu schätzen wissen, weil sie ihn für den nächsten eintauschen. Die anderen, die glauben, sie könnten Teil einer Welt sein, wenn sie nur die richtigen Dinge kaufen. Die anderen, die nicht wissen, was sie tun.
Wenn man nirgendwo mehr hingehen kann, ohne gleich mehreren Exemplaren der gleichen Gattung zu begegnen. Wenn man sich plötzlich in der Öffentlichkeit zusammen nicht mehr wohl fühlt, weil man sich zu erkennen gibt. Wenn man stattdessen auch gleich ein wild blinkendes Ausrufezeichen mit der Aufschrift „Achtung Blogger!“ über dem Kopf tragen könnte. Dann läuft was schief. Dann ist es Zeit, sich zu trennen. Dann warten aufeinander in aller Stille. Weil all das, was uns scheinbar verbindet, plötzlich nicht mehr zählt. Weil es bedeutungslos geworden ist, weil alle das Gleiche tun. Dann ist es nicht mehr das Eigene, sondern das der Masse.
Warum wollen wir alle immer wieder die gleichen Dinge?
Ist unser Geschmack mittlerweile so einheitlich geworden, dass wir gar nicht anders können als dasselbe zu wollen? Wollen wir einfach dazu gehören, ob bewusst oder unbewusst? Wollen wir beweisen, dass wir wissen, was gerade IN ist? Oder wollen wir einfach das Beste, was es gerade gibt?
Wollen wir nicht Individualität und Vielfalt? Wollen wir nicht Persönlichkeit und Geschmack? Wollen wir nicht, dass das, was wir tragen, ein Spiegel unseres Innersten nach außen ist? Wollen wir nicht einfach ICH sein, unabhängig von Trends und Größen?
Ja, das wollen wir. Ich zumindest.
Und deshalb führen mein Liebling und ich nur noch eine geheime Beziehung, in aller Stille, in trauter Zweisamkeit. Denn wir wissen noch immer, was wir aneinander haben. Doch das soll niemand wissen. Das behalten wir für uns. Das bleibt unser Geheimnis.
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